Die Baureihe 610 - 612
Die Entwicklung der Baureihe 610 – 612
1987 gab der Bundesverkehrsminister eine Studie zur Findung von Möglichkeiten der Attraktivitätssteigerung des Schienenverkehrs in Nordostbayern in Auftrag. Hier sollte vor allem mit Blick auf die Anbindung an den Knotenpunkt Nürnberg, ein umfassendes Verkehrskonzept entwickelt werden.
Die Bundesbahndirektion Nürnberg entwickelte und verglich dabei sieben Varianten, mit und ohne Streckenausbau auch mit Elektrifizierung. Wobei letzteres auf Grund der Unwirtschaflichkeit außer acht viel. Als Lösung des Problems kristallisierte sich der Einsatz von 628 – Einheiten auf verbesserten Trassen heraus. Die Bundesbahndirektion hatte jedoch die Neigetechnik noch nicht berücksichtigt. Das Land Bayern, sicherte seine Bereitschaft zur finanziellen Förderung des neuen Projektes mit Neigezügen zu.
1987 stellte der italienische Hersteller Fiat-Ferroviaria seine ETR 401 mit der Pendolino- Technik in Deutschland der Bundesbahn vor. 1988 wurden Mess- und Demonstrationsfahrten auf der Strecke Hof-Nürnberg durchgeführt, die den Durchbruch für dieses Projekt brachten.
Der Einsatz dieser Dieseltriebwagen mit gleisbogenabhängiger Wagenkastensteuerung war eindeutig die beste Lösung für die oberfränkischen Mittelgebirgsstrecken. Diese Variante hatte noch einen großen Vorteil, so konnte man auf den Streckenausbau weites gehend verzichten.
1988 wurden von der Bundesbahn 10 Triebzüge der Baureihe 610 bei MAN/MBB/Siemens/AEG in Auftrag gegeben. 1990 folgten 10 weitere Fahrzeuge. MAN war für den wagenbaulichen Teil verantwortlich und Siemens/AEG für den elektrischen Teil der Fahrzeuge. Die Drehgestelle und das Neigesystem lieferte der italienische Hersteller Fiat-Ferroviaria.Das Äußere der Wagenkästen erinnert doch stark an die Triebzüge der Baureihe 628/928.2. Jedoch gibt es einen entscheidenden Unterschied, da die Gewichtsersparnis eine große Rolle bei der Entwicklung spielte, wurde hier Aluminium für den Wagenkasten verwendet. Auch sind die mit Faltenbalg-Übergängen verbundenen Wagenkästen länger als die des 628.2/928.2.
Die neu konzipierte Inneneinrichtung mit teils in Vierergruppen und teils in Reihung angeordneten Sitze, sorgen für ein angenehmes Reise-Niveau. Die Abteiltüren aus Glas und die breiten Schwenkschiebetüren mit behindertengerechtem Einstieg bieten einiges mehr an Fahrkomfort. Zum Antrieb des Zuges wurden zwei abgas- und verbrauchsarme MTU-Dieselmotoren die über zwei Drehstromgeneratoren, zwei Gleichrichter und einen GTO-Traktionsrichter, drei im Untergestell angeordnete Drehstrom-Asynchron-Fahrmotoren speisen, eingebaut. Mit dieser kraftvollen dieselelektrischen Motorisierung beschleunigt der Triebwagen auf eine Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h.
Erprobung und Betriebseinsatz
Im Oktober 1991 wurde der erste Triebzug der Baureihe 610 in Betrieb gesetzt. Im Mai 1992 nahmen nach nur kurzer Erprobungszeit 8 Einheiten ihren Dienst zwischen Nürnberg-Bayreuth und Nürnberg-Hof auf. Die Reisezeiten verkürzten sich beträchtlich.Die Fahrzeitverkürzung auf der Strecke Nürnberg-Bayreuth betrug 16 Minuten und auf der Strecke nach Hof 18 Minuten. Die Fahrzeiten von Weiden nach Nürnberg verkürzte sich sogar um 20 Minuten. Rasch bekam der Zug einen eigenen Namen im Volksmund. Die “Pendolinos” wie der 610er genannt wurde, erlangte innerhalb der ersten 5 Betriebsmonate bei den Fahrgästen große Beliebtheit, was sich bei den Fahrgastzahlen niederschlug.
Die in Nürnberg beheimateten Triebzüge erreichten pro Tag mit 800 bis 900 Kilometern eine doppelt so hohe Durchschnittslaufleistung, wie die übrigen Dieseltriebzüge. Sie erwiesen sich als zuverlässig, dennoch blieb ein chronisches Problem; die Computersoftware. Beim automatischen Kuppeln gab es Systemabstürze. Die deutschen “Pendolinos” galten als Musterbeispiel funktionierender Neigetechnik. Im Sommer 2000 mußte dann die Höchstgeschwindgkeit auf 140 km/h herabgesetzt werden. Die nachträglich eingebauten Schlingerdämpfer waren die Auslöser für Schweißnahtrisse an den Angriffspunkten.
Die Fahrzeiten konnten nun nicht mehr eingehalten werden und Verspätungen waren die Folge. Die 610er wurden nach Kassel ins Werk zur Ausbesserung gebracht. Zwischenzeitlich mußte die Geschwindigkeit der Triebzüge, wie vom EBA gefordert, sogar noch einmal auf 100 km/h reduziert werden. Aus diesen Gründen fanden die Triebzüge nur noch Einsatz auf den Strecken nach Weiden und Furth im Wald.
Alles in allem hatte sich die Baureihe 610 bewährt und andere Bundesländer wie Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg bekundeten Interesse. Über die Finanzierung der neuen Züge konnte man sich dennoch nicht einigen. Die Bundesbahn wollte sich nicht alle Kosten aufbürden lassen, da sie vom Land Bayern Fördermittel erhalten hatte. Die Bestellung einer zweiten Bauserie von 50 Triebzügen scheiterte.
Die Weiterentwicklung zur BR 611
Mit der Regionalisierung des Personennahverkehrs und dessen Bestellung durch die Bundesländer zeichnete sich in finanzieller Hinsicht eine Lösung des Dilemmas ab. Durch die ständigen Fortschritte in der Fahrzeugindustrie boten sich neue Möglichkeiten an. Im Juli 1994 beschloss sich die DB AG, 50 ganz neue Einheiten der Baureihe 611, bei AEG Schienenfahrzeuge in Henningsdorf, fertigen zu lassen. 2 Jahre später, im Juni 1996 präsentierte die nunmehrige ADtrans in Henningsdorf, den 611 004/504 der Öffentlichkeit. Doch die Wenigsten wussten, ADtrans bereits in Terminverzug geraten war, der gezeigt 611 konnte sich zwar neigen, doch fahren konnte er nicht.
Die zweiteiligen Triebzüge, die eine Kupplungsmöglichkeit von bis zu vier Einheiten in Mehrfachtraktion hatten, wurden wie ihr Vorgänger 610, in Aluminiumbauweise hergestellt. Die Neuheit dieser Baureihe beruhte auf der Neigetechnik “neicontrol-E”. Diese Technik wurde ursprünglich für militärische Zwecke im Leopard II Panzer, von AEG, Daimler Benz und ESW, entwickelt. Noch nie zuvor wurde eine solche Technik für ein Schienenfahrzeug adaptiert. Damit erreichte man, daß der Energieverbrauch sank und sich das Einbauvolumen verringerte.
Die unterflurige Anordnung der Neigetechnik ermöglichte ein höheres Platzangebot im Fahrgastraum, so konnten in den 611-Einheiten nun 148 Sitzplätze untergracht werden, statt bisher in den 610-Einheiten 136. Für einen ruhigeren Lauf sollten die neuen Lenkergestänge als Koppelglieder zwischen den benachbarten Radsatzlagern und Drehdämpfern zwischen dem Drehgestell und Wagenkasten sorgen.
Einsatz und Erprobung des 611
Unter großem Zeit- und Kostendruck mußte Adtrans die Triebwagen der Baureihe fertig stellen. Deshalb entfiel eine eingehende Betriebsprüfung, da die Deutsche Bahn AG trotz allen Einwänden die Absicht hatte, im September 1996 mit 13 Triebwagen den Plandienst auf den Strecken Saarbrücken-Mainz und Mannheim-Heilbronn aufzunehmen. Der Fehlstart war also vorprogrammiert. Die Folge waren, defekte Türschließmechanismen, Ausfälle der Klimaanlage und nicht funtionstüchtige Toiletten, dies war alles noch zu verkraften. Gravierend waren die Ausfälle der Steuerungselektronik bei Mehrfachtraktion und Motorschäden. Die Fahrpläne konnten nicht mehr eingehalten werden, im Oktober 1996 entschied die DB AG die Triebzüge aus dem Einsatz zu nehmen. ADtrans bekam die Fahrzeuge zurück und mußte diese nachbesseren.
Im Juni 1997 wagte die DB AG erneut die BR 611 im “bogenschnellen Fahren” einzusetzen. Doch störungsfrei liefen sie auch weiterhin nicht. Im Mai 1998 brach eine Koppelstange am Drehgestell eines Fahrzeuges. Das EBA setzte deshalb die Höchstgeschwindigkeit aller Neigetechnikzüge diesen Typs auf 120 km/h herab. Dies sollte noch nicht alles gewesen sein. Im September 1998 kippte an einem 611er bei Kaiserslautern ein Wankstützenhebel zwischen dem Wagenkasten und Drehgestell um, dies hatte zur Folge, dass die Luftfederung außer Kraft gesetzt wurde. Ein Wagenkasten verschob sich beim 611 028/528 gegen das Drehgestell und blieb in Schräglage.
Das EBA von diesen Vorfällen gewarnt, ordnete die Zwangsstillegung aller 50 Triebzüge an. Nach einer Durchsicht und unter strikten Auflagen wurden einige der Triebzüge noch im September des gleichen Jahres wieder in Dienst gestellt. Durch die vielen Ausfälle, stellten Länder und Kommunen an die DB AG Regressforderungen, wegen bereits zugesagter Fördermittel. Nun forderte die DB AG von ADtrans Regressforderungen in zweistelliger Millionenhöhe. ADtrans versicherte die Mängel zu beseitigen. Ein neues verbessertes Modell hatte man in der Zwischenzeit schon entwickelt.
Die Weiterentwicklung zur BR 612
Noch im Juni 1996 erhielt ADtrans den Folgeauftrag über 50 Fahrzeuge der Baureihe 612. Die Deutsche Bahn AG wollte für ihre Tochter DB Regio eine schnittigere Frontpartie in einem neuen Design. Der Führerraum wurde vergrößert und der Führerpult mittig platziert. 1998 wurden 100 weitere Fahrzeuge diesen Typs bestellt und noch 4 zusätzlich. Nun umfasste der Auftrag 154 Fahrzeuge. In den nächsten 3 Jahren wurde noch einmal die Stückzahl auf 290 aufgestockt.
Im Oktober 1998 führte ADtrans den 612 001/501 der Fachmesse als “Regio-Swinger” vor. Die eingebaute Neigetechnik, das Hydraulikgetriebe und die Hauptabmessungen blieben unverändert zur BR 611. Veränderungen kamen in der Leittechnik, in der Bordnetz-Elektrik, der Motorisierung und der radialen Steuerung der Radsätze. Die BR 612 unterscheidet sich durch die neuen Fahrzeugköpfe aus glasfaserverstärktem Kunststoff, einer neuen Raumaufteilung mit “Dritteleinstiegen” vor und hinter den Drehgestellen und einem mit 16 Sitzplätzen ausgestatten Fahrgastraum, der zum Führerraum mit einer Glastür abgetrennt ist.
Einsätze und Bewährung
Nach der Endabnahme im Februar 2000 wurden die 612er in Kaiserslautern in Dienst gestellt. Auf der Regionalexpress-Linie Kaiserslautern-Neustadt und Landau-Karlsruhe nahmen sie den Plandienst auf. Mit dem Fahrplanwechsel im Mai 2000 erweiterte sich das Einsatzgebiet der Fahrzeuge. Sie befuhren nun weitere Regionalexpress-Linien wie Mainz-Ludwigshafen-Speyer-Karlsruhe und übernahmen nach und nach die bisher erbrachten Leistungen der Baureihe 611. Im Jahr 2000 kamen weitere Triebzüge der Baureihe im Betriebshof Leipzig Süd, Hof und in Erfurt zum Einsatz.
Im Februar 2001 übernahmen die 612er Leistungen auf dem Streckenabschnitt Pegnitz-Hof. Im Sommer des gleichen Jahres kamen die Triebwägen auf den folgenden Strecken zum Einsatz:
Nürnberg-Pegnitz-Bayreuth/Hof-Zwickau, Hof-Bamberg, Lichtenfels-Saalfeld und zwischenzeitlich auch auf der Strecke Nürnberg-Schwandorf.
Die Züge fuhren bis zum August 2004 im Neigetechnikbetrieb bis bei einer regelmäßigen Ultraschalluntersuchung Risse der Radsätze entdeckt wurden. Somit mußte die Neigetechnik an allen Zügen über ein Jahr abgeschaltet werden. Erst im Dezember 2005 verkehrten die Triebzüge der BR 612 mit Molybdän-gehärteten Rädern wieder im bogenschnellen Betrieb. Im Laufe der letzten Jahre ist die Baureihe 612 für die DB unverzichtbar geworden. Sie ersetzten viele ältere Lokomotiven samt den veralteten Wägen und bilden nun das Rückgrat im hochwertigen regionalen Verkehr.
Als Ersatz für den äußerst störanfälligen ICE (TD) wurde die Baureihe 612 zwischen Dezember 2003 und August 2004 im Fernverkehr zwischen Nürnberg und Dresden eingesetzt. Dazu wurden die verkehrsroten Triebwagen der BR 612 dem Farbschema des Fernverkehres angepasst, lichtgrau mit roten Streifen.Zur Innenraumaufwertung bekamen sie Kopf-Schonbezüge außerdem wurden die 16 Triebwagen als Baureihe 612.4 umnummeriert. Mittlerweile wurden alle 612er wieder verkehrsrot lackiert und die Schonbezüge entfernt. Die 400er-Betriebsnummer besitzen sie jedoch noch heute. Diese Züge fahren heute größtenteils, seit Ende 2006, als Franken-Sachsen-Express.
Die zweiteiligen 612er verkehren derzeit auf vielen Strecken der DB AG in Dreifach-Traktion, oftmals reicht die Kapazität nicht aus. In den ersten Jahren gab es unter dieser Baureihe Ausfälle, bei denen die Elektronik und Kupplungsprobleme Sorgen bereiteten. Dennoch fahren heute die Fahrzeuge bei den relativ hohen Tageslaufleistungen, recht zuverlässig.
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